Andere Welt?
Ein Reisebericht, Ukraine - Rumänien Mai 2005, Text: Gregor Horvath, Bilder: Harald Holzschuh

Wir bestellen eine Melange und den typisch dekadenten Mehlspeisenwahnsinn im Cafe Wien in der Herrengasse. An der Wand hängt ein Portrait von Kaiser Franz Josef und Sissy. Der Kellner trägt einen Bart, wie ihn auch der alte Kaiser hatte. Die Kellnerinnen tragen ein schwarzes Kleid mit weißer Spitzen-Schürze und hübscher, großer weißer Schleife über dem Hintern. Typisch Wien denke ich, und bin darüber sehr erstaunt. Eigentlich unglaublich. Denn in der Wiener-Herrengasse gibt es kein Cafe Wien, sondern nur das Cafe Central. Wir sind auch nicht in Wien, sondern in Czernowitz, der alten, ehemaligen K&K Kronlandhauptstadt der Bukowina in der heutigen Ukraine.

Nirgendwo sonst im Ausland ist es uns je gelungen eine Melange zu bestellen und auch eine solche in korrekter Originalausführung zu bekommen. Ausgerechnet im einem fremden, unbekannten, scheinbar so fernen, aber geographisch doch so nahen Land gelang dies. Die Ukraine ist für uns ein großes Fragezeichen, eine Unbekannte. Aus Unwissenheit. Weil in der Schule, in sozialen, kulturellen Kontakten und in den Medien der Osten kaum vorkommmt. Ich war überrascht über die schiere Größe und Nähe des Landes, als ich die Karte aufschlug. Das Land stellte sich mir wie ein großer weißer Fleck dar, Ukraine - was ist das? Folge des eisernen Vorhangs, der noch immer nicht geistig und kulturell überwunden ist. Dies war jedoch nicht immer so. Gerade Österreich und Wien hat eine lange Tradition an Kontakten zu diesem Teil Europas. Ich verstehe es auch als Aufgabe unserer Generation daran anzuknüpfen und auch deswegen reise ich so gerne in den Osten. Der lateinische Name Austria bedeutet Ostland, kann es ein Mehr an erblichen Auftrag geben?

Der Instinkt befiehlt Angst vor dem Unbekannten. Ein in der Moderne fataler Reflex. Die einzige Möglichkeit diese Angst abzubauen ist Information, das Wissen über den anderen. Insofern ist die Aufhebung des Visazwanges für EU Bürger durch die Ukraine ein erster guter Schritt. Nun wäre die EU am Zug, aber die Unwissenheit und die Angst wird wohl in dieser Frage vorerst siegen.

Wir wurden in der Ukraine als Ausserirdische betrachtet. Auch die Ukrainier und der Osten wissen zu wenig über uns. Oft herrschen dort ebenso falsche Vorstellungen, wie wir falsche Vorstellungen haben. Ich hoffe, diese Reise war vielleicht ein winziges Mosaikstückchen zu einem Näherkommen und besserem Verstehen.

Fast alle die wir mit unserer Absicht die Ukraine zu bereisen konfrontierten, warnten uns. Ausgenommen jener freundliche, reisefreudige Rumäne, den wir in Putna/Rumänien kennenlernten. Er war auch der einzige von den Angesprochenen, die dort waren. Er gab Mut, warnte aber vor der dortigen Polizei. Viele Österreicher meinten instinktiv, "Was - so weit?", ohne zu wissen, daß Luftlinie Wien - Ukraine ungefähr Wien - Innsbruck entspricht.

Auf der Suche nach dem Fremden findet sich teilweise das Eigene. Durchmischt mit Fremden, ganz Fremden. Verwirrung. Eine Melange aus unterschiedlichsten Einflüssen. Eine Mischung, in der Geschichte, Menschen, Kulturen scheinbar zusammenflossen, wieder auseinanderdividiert wurden um wieder zusammenzufließen. Momentan ist vielleicht ein Beginn eines neuen Zusammenfließens, so hoffe ich jedenfalls, denn die Überwindung von Angst und Unwissenheit, das Verstehen und Zusammenarbeiten ist Garant für Frieden.


Ist diese Welt wirklich so anders, wie es scheint, oder einfach nur vergessen?

In der Stadt stinkt es unaufhörlich nach wechselnden Gerüchen: Benzin, Teer, Abgase, Öl, Chemie. Unser Hotel verströmt sowjetisches Flair, mit seiner Gigantomanie und seiner Bürokratie. An der Rezeption sitzen 3 Leute, deren Aufgabe klar geregelt scheinen, aber deren Effizienz wohl nur ein Zehntel von jener ist, würde einer alle Aufgaben übernehmen. In jedem Stockwerk gibt es eine eigene "Rezeption" mit einer Dame die für den Stock verantwortlich ist, und von der man letztendlich den Schlüssel bekommt, nach Vorlage des Beleges den man an der Rezeption bekam. Cyril Northcote Parkinson hätte seine Freude an der Ukraine. Seine Aussage: "Bürokratie ist die Vervielfältigung von Problemen durch die Einstellung weiterer Beamter." bewahrheitet sich ebenso bei der Grenzabwicklung.

Während des Stadtspazierganges spricht uns plötzlich eine junge Dame an. Sie fragt uns ob wir zu einem Interview über die Ukraine und die Visabestimmungen bereit wären. Ziel sei die Ausstrahlung im österreichischen Rundfunk (OE1). Ich sagte zu, und so interviewte mich der in der Ukraine unterrichtende Deutschlehrer aus Österreich, während seine Studentin das Aufnahmegerät bediente. Ich bin positiv überrascht hier wieder ein Stück Kontakt und Austausch zwischen Österreich und der Ukraine zu finden. Auch ein Zettel an der Fensterscheibe des österreichischen Kulturinstituts zeigt, hier ist gottseidank etwas in Bewegung.

Wäre dieses Interview einen Tag später aufgenommen, wäre es wohl weniger freundlich ausgefallen. Eine Polizeistreife behauptete einfach wir wären an einer Polizeikontrolle weitergefahren und verlangte 680 Hrywna (ca. 100 EUR). Auch eine Art der Geldbeschaffung. Nach längerem Verhandeln einigten wir uns auf 20 EUR. Quittung bekam ich keine. Allerdings bekam ich einen Wutanfall einige Kilometer später als erneut eine Polizeistreife diesselbe Geschichte auftischte. Mein Wutanfall dürfte Wirkung gezeigt haben, sie ließen uns weiterfahren. Großes Interesse zeigte der Polizist an meinen Unterlagen, die ich zur Hand nahm um die Beschwerdetelefonnummer des ukrainischen Innenministeriums zu suchen, die der neue Präsident Juschtschenko eingerichtet hat, um die Korruption bei Zoll und Polizei zu bekämpfen.

Ein für mich neues ungutes Gefühl, staatlichen Behörden und Willkür weitgehend hilflos ausgeliefert zu sein, begleitet die nächsten Kilometer. Auch wenn die praktischen Auswirkungen des Vorfalls marginaler Natur sind, so ist diese neue Erfahrung des Ausgeliefertseins eine für mich völlig neue. So und noch viel schlimmer müssen sich wohl politisch oder rassischtisch Verfolgte fühlen und gefühlt haben. Umso mehr schätzt man die Verhältnisse in einer funktionierenden Verwaltung und Demokratie und desto interessierter muß man sein, daß auch in der Ukraine solche Verhältnisse Einzug halten. Das Beispiel, die Wirkung und Macht der EU auf diese Staaten darf in diesem Zusammenhang keinesfalls unterschätzt werden. Auch in Rumänien hat es früher ähnliche Vorfälle häufig gegeben, auf meiner Reise vor vier Jahren und diesesmal hatten wir keinerlei solche Probleme. Jedenfalls habe ich den Vorfall bei der ukrainische Botschaft in Wien schriftlich aufgezeigt um vielleicht ein kleines Mosaikstückchen für gefestigteres Reise-Terrain zu schaffen.

Überraschenderweise können auch intergalaktische Raumschiffe ganz profane Reifenpannen haben. So auch die Yamaha. Oh Gott dachten wir, eine Reifenpanne in der Ukraine. Die geschickten Mechaniker der kleinen Reifenwerkstatt 1 km retour hatten dieses Problem überraschend rasch behoben. Eine erste, interessante, längere und freundliche Begegnung mit den Ukrainern 10 km nach der Grenze.

Überhaupt die Pannen. Die erste hatten wir 50 km nach Wien. Motorschaden an der KTM von Harald. ÖAMTC Abschleppung und Wechsel auf Sandras Yamaha. Der Motorschutz der Yamaha mußte irgendwo in Ungarn mit Kabelbinder befestigt werden. Die Kickstarterwelle der Yamaha bekam Spiel, sodaß die Kickstarterzahnräder Geräusche machte. In meiner Minox Kamera war die Batterie leer, allerdings stellte ich dies erst nach der Rückkehr aufgrund der 6 leeren Filme fest. Umso ausführlicher muß also dieser Reisebericht werden.

An Barock und Größe scheinen die Ukrainer und auch die Rumänen mehr Interesse als an High Tech und Leichtbau zu haben. Die Cali war klar im Vorteil, was sie kostet, wieviel Kubik, welches Herstellerland, die typischen Fragen. Der erste Blick auf den Tacho - 240 - erstaunte Gesichter, wie unsere als wir als Buben die Autos nach dem Tacho beurteilten.

Der Gegensatz zwischen hyperreich und bettelarm, Mercedes S Klasse und klappriger Lada, verfallene Häuser und riesige Villen im Rohbau ist seltsam und hinterläßt gemischte Gefühle und ein nachdenkliches Gesicht.

In einer schicken Touristen Anlage, wohl für die betuchten Ukrainer, stellt uns der sehr freundliche Kellner zwei Speisen zur Auswahl. Ob der kyrillischen Schriftzeichen auf der Karte und keinerlei Sprachverständnis stellt sich dies nonverbal dar. Einmal grunzte er und die zweite Wahl bschrieb er mit einer in Schlangenlinie geführten Hand. Nach einigem Überlegen begriffen wir, die zweite Wahl sollte wohl Fisch bedeuten. Also grunzten wir zurück. Dies funktionierte zu gut, denn wir bekamen ein hervorragendes Gericht vom Schwein und eine schweinische Rechnung serviert. Nachdem ich ein großes Fragezeichen auf die in kyrillischen Buchstaben gehaltenen, aber trotzdem sehr hoch erscheinenden Rechnung, malte, rückte der Kellner mit einer neuen Rechnung, um 1 Drittel günstiger und diesmal nicht mit einem Rechnungsdatum vom Vortag, heraus. Unehrlichkeit kann ich nicht ausstehen. Zweimal ist uns nun in der Ukraine eine zumindest äußerst zweifelhafte Vorgangsweise widerfahren.

Die Nacht in der Holzhütte in den Karpaten schlief ich unruhig. Die Holzhütten Urlaubs - "Anlage" die wohl für reiche Ukrainer gebaut ist, ist rundherum eingezäunt und von 2 Security Leuten bewacht. Als wir bei ihnen vorbei zum Abendessen schlendern, winken sie uns in ihr Wachzimmer und fordern "Bakschisch". Wir geben ihnen diesen um unsere Motorräder auch noch morgen zu sehen. Wir sperren die Motorrädern mit allen verfügbaren Schlössern ab.

Die schönen Berge der Karpaten sind noch schneebedeckt. Am Markt der kleinen Ortschaft erleben wir das pulsierende Leben der Ukrainer hautnah. Zwischen all den Waren und den Menschen die zum Kaufen, Neuigkeiten austauschen oder sehen und gesehen werden oder betteln gekommen waren schlenderten wir durch und ernteten erstaunte Gesichter. Aus alten ausrangierten Eisenbahnwaggons, von denen die alte Farbe in Fetzen abblätterte wie welkes Laub, wurden Marktstände. Die offenbar handgemachten Süssigkeiten, die wir bei der alten Frau kauften, schmeckten hervorragend. Die Schlange vor dem Bankschalter in der Bank neben dem Markt drehte sich geschlossen um und starrte uns minutenlang verwundert an. Hielten sie uns für intergalaktische Bankräuber? Der Mann hinter mir in der Schlange wollte Dollar tauschen, überhaupt scheint Dollar die zweite Landeswährung zu sein. Seltsam.

In diesen Ländern ist eine Reiseplanung praktisch nicht möglich, aber eigentlich auch unnötig. Die Strassenverhältnisse und die menschlichen Begegnungen sind nicht kalkulierbar, somit auch nicht der Reiseschnitt. Das sich Treibenlassen im Strudel der Geschehnisse, des Lebens und des Reisens ist für einen kühl kalkulierenden, berechnenden und mit ehrgeizigen Zielen bepackten Westtouristen ein angenehmer Kontrast, wenn man bereit ist sich darauf einzulassen. Reisen funktioniert im Osten anders. Reisen funktioniert über die Menschen, über die Gastfreundschaft, die nicht primär auf kommerziellem Interesse fußt, sondern auf Tradition. Sucht man ein Hotel reicht es z.B in Rumänien aus, sich bei einer Tafel mit aufgedruckter Karte den Weg zu suchen. Man wird von einer freundlichen älteren Dame in perfektem Deutsch angesprochen wo man hin möchte, woher man kommt. Wir bekommen ein Empfehlungsschreiben auf rumänisch auf ein Papier gekritzelt, zusammen mit einem Anfahrtsplan zur Freundin die Zimmer auf einem Bauernhof vermietet. Das Zimmer war perfekt, ebenso das Abendessen.


Der Wirtschaftsstudent im Zimmer ober uns spricht gut Englisch, und ist sehr gesprächig und freundlich und ein angenehmer, informativer Kontakt. Der Sohn der Bauernfamilie ist Disc Jockey der Ortsdisco. Sein Angebot schlagen wir nicht aus. Die grimmig dreinblickenden Security Leute öffnen uns als Special Guests from Austria den Eintritt in die Ortsdisco des kleinen Ortes Putna. Wir dürfen auf der "Bühne" Platznehmen und werden den Freunden des Disc Jockeys vorgestellt. Dem verwunderten Blick der Anwesenden entnehme ich, daß es eine Unhöflichkeit ist auch den Damen die Hand zu reichen. Der eine Freund des Disc Jockeys brüllt mir ins Ohr: "I like Hermann Maier, Toni Polster and Franz Kafka.". Ein interessanter Blick von aussen auf Österreich denke ich und erwidere ihm: "Then you are our friend". Den herzlichen "Austria - Romania are friends" Ausspruch begiessen wir mit einem Schluck Wodka.

In Rumänien bleibt man nicht lange alleine. Beim Mittagessen spürt uns eine Partie einheimischer Biker auf. Einer spricht Englisch. Ich frage ihn ob er es in der Schule gelernt hat. "No, in Cartoons" antwortet er zur allgemeinen Erheiterung. Sie laden uns ein Ihnen auf einen Paß zu folgen. Was kann besseres passieren, als die Gegend von Einheimischen gezeigt zu bekommen? Die MZ mit dem BMW Logo am Tank macht gelegentlich Probleme, aber nach erneutem Anrennen läuft sie dann immer wieder. Trial ist nicht die Speziliatät der Cali. Die "Strasse" wird immer abenteuerlicher, und ich habe alle Hände voll zu tun die schwere, vollbepackte Karre auf der unbefestigten Schlamm / Schnee / Geröllpiste den Berg hinaufzubekommen. Erstaunlich wo man mit einer Cali überall raufkommt bzw. hoffentlich auch wieder runterkommt, denke ich während ich mich schwitzend voll auf die richtige Spur konzentriere. Wir zweigen einen noch kleineren Weg ab und kommen zu einem winzigen, einsamen Kloster mitten im wunderbaren Karpatenbergland. Für die Lebenden und für die Toten werden Kerzen in jeweils eigenen Kästen neben der Kirche entzündet. Es ist gerade Ostern, hier im orthodoxen Rumänien. Die berühmten Moldauklöster, die wir später besuchten, gaben auch einen Einblick in die Faszination dieser Religion und ihrer sakralen Bau und Kunstwerke und in die Unterdrückung, die Österreich-Ungarn hier praktizierte.

Weiter geht es auf die Paßspitze, auf der wir durch schöne Aussicht und freundliche Gespräche für den mühseligen und zeitraubenden Weg entschädigt werden. Das Angebot bei Ihnen zu übernachten lehnen wir freundlich ab , aber die Idee eine kleine leichte Enduro zu kaufen und hier zu einsamen Gebirgsseen Endurozuwandern begeistert aufgrund der Erzählungen der Biker immer mehr.

Rumänien nach vier Jahren wieder zu bereisen, ist wie einen Freund wieder zu besuchen. Ein Freund, dem es in der Zwischenzeit schon etwas besser geht. Teilweise neue Strassen, bessere Hotels und etwas mehr "Wohlstand" sind Zeichen wirtschaftlichen Aufschwungs. Das freut mich auf der einen, beängstigt mich aber auf der anderen Seite. Denn es bedeudet auch ein Sterben, ein Verändern. Die Moderne hat unseren Lebenssstil auch am Land die letzten 50 Jahre stark verändert. Die Großfamilie stirbt aus, die Landwirtschaft ebenso. Die Zeit wurde knapper, die Jagd nach Geld das Wichtigste im Leben. Und so wie das Leben in rumänische Dörfern derzeit noch ist, war es nach den Erzählungen unserer Älteren und den Bildern auch bei uns. Es ist abzusehen, daß dieses "alte" beschauliche Leben auch in Rumänien sterben wird. Dieses Land und ihre Bewohner steht vor oder ist inmitten großer Umwälzungen. Unser Land hatte Zeit die gesellschaftlichen Veränderungen langsam über Generationenschritte vorzunehmen. Rumänien und die anderen Ostländer jedoch sind mit einer plötzlichen Umorientierung konfrontiert, die möglicherweise manche überrollen wird. Der Film "Mon Oncle" von Jacques Tati geht mir auf dem Weg nach Ungarn durch den Kopf.

Der gesprächige und freundliche Ungar auf der Tankstelle bei der Rückreise fragte woher wir kommen. "Ukraine" sagen wir. Er blickt erstaunt und sagt "Das ist andere Welt". Der Puszta entlangrollend Richtung Heimat denke ich "Nein, das ist unbekannte Welt."



Zurück zur Hauptseite